Text: Janaina Engelmann-Brothánek. Bild: Fear of God
Mehr denn je ist Mode ein Ausdruck für individuelle Freiheit, das Korsett gesellschaftlicher Erwartungen ist passé. Männer legen die altmodische Etikette ab und genießen, Stile freier zu kombinieren – ein Ansatz, den die Damenmode längst etabliert habt.
Bestes Sinnbild ist die Rolle des Sakkos. Es bleibt ein Kernelement der Männermode, ist aber nicht länger das Symbol formeller Eleganz. Es verleiht dem Look Raffinesse, ohne ihn schwer oder steif wirken zu lassen. Der klassische Anzug, ehemals das unverzichtbare Key-Piece des Mannes, wird von dynamischen Kombinationen abgelöst: lässige, weite Hosen, Sakkos in Übergröße – oft auch als Doppelreiher – und T-Shirts, die das klassische Hemd ersetzen. Mit diesen Looks gelingt eine moderne, lässige Ästhetik, die auch Millennials und Gen Z ansprechen kann.
Klassik in der Klemme
„Die Klassik hat sich nicht weiterentwickelt, sie ist in einer engen und traditionellen Ästhetik stehengeblieben“, erklärt Massimiliano Giannelli, Gründer und Inhaber von Société Anonyme aus Florenz. Marino Edelmann von Strellson teilt diese Meinung: „Sogar wir, die unter anderem als Anzugmarke bekannt wurden, müssen feststellen, dass der klassische blaue Bankangestelltenanzug nicht mehr die Bedeutung wie vor zehn Jahren hat, als er noch viel mehr Uniform und Pflicht für viele Männer im Alltag war.“ Anzüge seien natürlich noch wichtig, aber stark an Anlässe wie Hochzeiten gebunden. „Es ist mittlerweile o. k., mit einer Wollhose und einem Polo ins Büro zu gehen“, ergänzt Edelmann. Dieser Wandel ist ein direktes Ergebnis der steigenden Akzeptanz von Streetstyle-Elementen in der Menswear. Auch Antonio Longo von Marcona3 betont: „Erst mussten die starren Konventionen der Formalwear aufgebrochen werden, um Neues zu kreieren.“ Gennaro Dargenio, Inhaber von Circolo 1901 beschreibt, dass „der formelle Teil der Garderobe ein überholtes Konzept geworden ist. Die Herausforderung bestand in unserem Fall darin, ein Sakko für diejenigen zu kreieren, die normalerweise keines tragen. Unser Easy Jacket kombiniert das klassische Erscheinungsbild mit Jerseys oder Sweat, also unkonventionellen Materialien.
Gottvater Virgil Abloh
Virgil Abloh revolutionierte die Menswear mehr, als ihm vielleicht bewusst war. Für Antonio Longo stand dabei besonders Ablohs Rolle als Kreativchef von Off-White und Mastermind hinter den Kollektionen für Louis Vuitton im Vordergrund: „Wir haben Virgil als Kunden in unserem Showroom kennen gelernt, als er noch den RSVP-Store in Chicago leitete. Sein Einfluss auf die Modebranche war enorm. Er war Architekt und diese Perspektive hat seine Auffassung von Mode geprägt. Er schuf ein neues Verständnis für die Verschmelzung von Street Culture und High Fashion.“ Doch genau diese Verschmelzung führte zur Elitisierung der Streetwear, ein Aspekt, den Abloh bereits 2017 kritisch hinterfragte. „Virgil wollte, dass Mode auch für die Straße erschwinglich ist“, sagt Longo. Zu Beginn spiegelten T-Shirts zwischen 49 und 59 Euro bei Off-White diesen Geist auch wider. Doch im Laufe der Zeit stiegen die Preise. In einem Interview mit „Dazed“ äußerte Abloh die Prognose, dass Streetwear sterben würde – er sah sie als Opfer ihres eigenen Erfolgs, gefangen in einem gesättigten Bedarf.
Ende des Schubladendenkens
Das Auflösen traditioneller Kategorisierungen betrifft damit nicht nur die klassische Menswear, sondern auch die Streetwear. Für Traditionsmarken wie Bugatti bedeutet das die Herausforderung, moderne Einflüsse zu integrieren und gleichzeitig ihre Markenidentität zu bewahren. Bugatti-CBO Florian Wortmann beschreibt diesen Wandel: „Wir clustern nicht mehr nach Alter, Zielgruppe oder Anlass, sondern nach Emotionen. Wir möchten unseren Kunden mit Stil-Updates auch ein Stück weit provozieren, hin und wieder wachrütteln.“
So hat Streetstyle nicht nur die Ästhetik der Mode beeinflusst, sondern auch das Selbstbewusstsein der Männer im Umgang mit ihrer Garderobe gestärkt. „Die Jungs sind mutiger geworden, sich selbst über ihren Kleidungsstil auszudrücken. Das ist ein direktes Ergebnis der Inspiration, die Männer aus urbanen Kulturen und der Straßenmode schöpfen. Der Einfluss von Jugendkultur und sozialen Medien hat die Wahrnehmung und den Umgang der Männer mit Mode grundlegend verändert. Es geht nicht mehr nur um den Anzug oder das Hemd, sondern um die Art und Weise, wie diese kombiniert werden“, sagt Marino Edelmann von Strellson und spricht damit die kreative Freiheit an, die seine Kunden modisch ausleben.
Der Merge
Während der klassische Stil Gefahr läuft, als zu konservativ und unflexibel wahrgenommen zu werden, riskiert die Streetwear, ohne stilistische Weiterentwicklung ihrer subkulturellen Nische verhafte zu bleiben. Durch den Merge durchlaufen beide Seiten eine Evolution: Der klassische Look wird zeitgemäßer, während die Streetwear ästhetisch an Eleganz gewinnt. „Unser Ziel ist es, Komfort und Stil so zu vereinen, dass jede Generation ihre Haltung authentisch zum Ausdruck bringen kann“, sagt Gennaro Dargenio.
Nicht verwässern
Der Merge klingt nach einem Balanceakt, vor allem für klassische Menswear-Brands. „Die größte Herausforderung ist, die DNA nicht zu verwässern, sondern behutsam weiterzuentwickeln und dabei authentisch zu bleiben“, sagt Florian Wortmann. Ein Beispiel ist die Rückkehr der Ästhetik der 1990er-Jahre, die Wortmann als Chance sieht, die Kollektionen zu modernisieren und Spannung zu erzeugen. Dasselbe Thema spricht Marino Edelmann von Strellson an: Man müsse die Trends adaptieren, was die Notwendigkeit einer strategischen Herangehensweise an das Design unterstreicht. „Du musst unterscheiden, was dein Spielfeld ist und wo dein Umsatz liegt, und welchen Mehrwert deine Marke bieten kann, für deine Handelspartner und den Endkunden“, weiß er.
Zu welchem Preis?
In Bezug auf den Preis öffnet sich die Schere zwischen Fast Fashion und Luxusmarken immer mehr, während sich viele Marken im mittleren Segment schwer tun, ihre Position zu behaupten. „Die Kunden werden preissensibel“, bemerkt Antonio Longo. „In einem schwankenden Markt suchen sie nach Alternativen, die sowohl stilvoll als auch erschwinglich sind.“ Auch Massimiliano Giannelli kritisiert die extremen Preisunterschiede, die Konsumenten oft verwirren. „Ich verstehe nicht, wie eine Hose für 12,90 Euro produziert werden kann. Das ist schlichtweg unmöglich.“
All die Herausforderungen eröffnen der Menswear vor allem eines: neue Chancen, sich neu zu erfinden, neue Kunden anzusprechen, ihr kreatives Spektrum aufzubrechen und zu erweitern. Davon profitieren neue wie traditionelle Marken. Ein kritischer Punkt bleibt dabei die Preissensibilität der immer informierteren Kunden, die Qualität und Erschwinglichkeit radikal in Bezug zueinander setzen. „Der Konsument verlangt nach Qualität, Persönlichkeit, Komfort, Stil und einem fairen Preis – Attribute, die unverzichtbar sind, mehr denn je“, bringt es Gennaro Dargenio von Circolo 1901 auf den Punkt.