Die Mitte bricht weg? Zumindest in der Mode scheint das nicht zu stimmen. Allerdings wird sie heute von neuen Playern und Spielregeln bestimmt. Die Wichtigste: Mehr denn je geht es um ein Lebensgefühl.
Text: Nicoletta Schaper. Fotos: Roberto Cavalli
Im Womenswearstore von American Vintage lässt man die Welt hinter sich und betritt eine andere. Da sind die lichten Farben, von warmen Naturtönen bis hin zu frischen Highlights wie Pink, Neongelb und Grün, für Strick in flauschigen Materialien, der ergänzt mit Joggpants und Mänteln zum Signature Look der französischen Marke wird. Der kommt weltweit gut an, wie der aktuelle Expansionskurs beweist, mit Neueröffnungen in Barcelona und Florenz über Malibu bis nach Hongkong. „In den letzten Saisons haben wir uns mit markanteren Materialien und Farben weiterentwickelt“, sagt CEO Michaël Azoulay. „So sind wir sichtbarer geworden, ohne unsere Werte zu verlassen.“ Das heißt, dass die Marke bei aller Innovation bei sich bleibt. Und dass sie mit der Core-Preisrange von 40 bis 175 Euro nach wie vor erschwinglich ist.
Die Mitte ist der neue Luxus
Das Preisthema ist brisanter geworden. Nach unten driften Temu, Primark und Shein ab und nach oben das Luxussegment. Die wachsende Diskrepanz zwischen Billigmode und Luxuskleidung beeinflusst uns alle. Der Pullover für 13 Euro oder der Wintermantel für 20 Euro kommt uns ebenso absurd vor wie der 1.000 Euro teure Cashmere-Pullover. Spätestens die Midseasonsales lassen Zweifel aufkommen, welcher Preis denn nun gerechtfertigt ist. Dazu unsere Realität, die von globalen Umbrüchen bestimmt wird: Mit Kriegen in Nahost und Europa, einer stagnierenden Wirtschaft und gesellschaftspolitischer Verunsicherung scheint es auch für die Bestverdienenden nicht angemessen, viel Geld für Mode auszugeben. Zu einer signifikanten Verschiebung führt, dass sich Status zunehmend über Zurückhaltung definiert. Guter Stil ist, auf Qualität und zeitlosere Mode zu setzen, die ihren Preis wert ist. „Die Mitte ist der neue Luxus“, formuliert es Brenda Bizzi Bellei, Managing Director der White, die als Messe kommerzielle Fashionbrands repräsentiert. „Es zählt nicht mehr der hohe Preis, denn Fast Fashion hat die Benchmark gesetzt. Zunehmend wichtiger ist die Qualität zum gerechtfertigten Preis und die Individualität der Marken.“
Das Comeback des Total Look
Die Mitte wächst, aber mit Mittelmaß hat sie nichts zu tun. Ihr modischer Ausdruck ist vielfältig und nicht auf den einen Look festgelegt. Was also ist der gemeinsame Nenner? Diese Womenswear ist easy to wear, universell einsetzbar und immer verständlich. Sie begeistert junge Frauen ebenso wie ältere. Stil statt Trend, mit zeitlosem Design, das die Saisons überdauern kann. Unabdingbar bleiben Markenidentität und ein Wiedererkennungswert. „Es geht nicht mehr nur darum, schöne Kleidung zu entwerfen, sondern darum, sich dabei selbst treu zu bleiben“, sagt Rikke Baumgarten, Mitgründerin von Baum und Pferdgarten, einer Kollektion mit starker, modischer DNA. Sie teilt sich das dicht besiedelte Feld der Contemporary mit Drykorn, Sessùn, Second Female, Ganni, Rails und Essentiel Antwerp, um nur einige prägende Marken zu nennen. Es sind Allround-Performer, die für jede Situation das Richtige bieten, von der Hose über den Blazer und viele von ihnen bis hin zur Tasche und zum Schuh. Total-Look-Kollektionen gewinnen neue Power, weil sie im Handel wie über Social Media ein Lebensgefühl transportieren können. Das ist so wichtig geworden, weil sich die Erwartungshaltung der Konsumentinnen grundlegend gewandelt hat: Sie wollen nicht mehr nur konsumieren, sondern in eine Welt eintauchen.
Für ein Lebensgefühl zu stehen, das gelingt derzeit Brands aus Frankreich und Skandinavien besonders gut. Wie die Kollektion The Garment aus Kopenhagen, die feminine Eleganz mit Coolness übersetzt, oder Soeurmit unprätentiösem Minimalismus, durchdekliniert: vom Mantel bis zur Tasche. „Ich will jede Frau so kleiden, dass sie sich verstanden und wertgeschätzt fühlt“, sagt Domitille Brion, Artistic Director von Soeur. Damit bringt sie auch das passende Mindset auf den Punkt. Suncoo steht für Daily Wear mit französischem Chic zu Verkaufspreisen zwischen 80 und 250 Euro und wächst gerade auch im deutschsprachigen Markt. „Eine Pop-up-Fläche im KadeWe hat innerhalb von wenigen Monaten den Jahresumsatz einer etablierten Marke eingespielt, die vorher auf dieser Fläche war“, sagt Susann Nuru-Waage von der Vertriebsagentur Selectstudio. „Das zeigt, dass die Konsumentinnen nach etwas Frischem suchen und dass die Story der Marke stimmt.“ Der Plan geht umso besser auf, weil Suncoo dank acht eigener Stores versiert darin ist, die eigene Welt mit immer neuen Bildern für die Kundinnen erlebbar zu machen. „Gute Produkte zum richtigen Zeitpunkt zu zeigen, ist auch für unsere Handelspartner unerlässlich“, weiß Carole Deleuse-Gojon, COO von Suncoo. Die zwei jährlichen Hauptkollektionen kommen in je drei Lieferterminen in den Handel, zusätzlich kann kurzfristig nachbestückt werden.
Raiine aus Kopenhagen liegt im Handel neben Anine Bing, Ganni, The Garment und IRO. Dank sportiver Coolness, die die Frauen generationsübergreifend anspricht, wurden Retailer wie Søren, Fidelio und MyClassico hinzugewonnen. „Wir wollen Lieblingsstücke schaffen, die sich dem Leben der Frauen anpassen, und nicht umgekehrt“, sagt Creative Director Maria Leonhardt. „Ich liebe die Idee, dass sich die Identität der Marke auf natürliche Weise auf die ganze Welt übertragen lässt.“ Auch der ausbalancierte Total Look von Otto d’Ame aus Italien funktioniert international. „Das gelingt, weil ich mir als Designerin treu bleibe und außerdem globale Trends wie die Bedürfnisse dynamischer Frauen aus kosmopolitischen Städten mit einfließen lasse“, sagt Gründerin Silvia Mazzoli. „Heute muss Mode inklusiv sein und sich an verschiedene Lebensstile anpassen.“
Wir als Marke verstehen dich als Kundin – diese Botschaft gibt den Ausschlag. Dass es die Beststeller von Penn & Ink N.Y. jede Saison in neuen Farben und Materialien gibt, macht die Kundinnen zu treuen Fans. „Sie mögen es, ihre Lieblingsstücke immer neu aufgelegt zu sehen und zu kaufen, weil sie bereits wissen, dass sie ihnen wie angegossen passen“, fasst es Gründerin Felice de Lorme zusammen. „Wir gestalten unsere Mode so bequem wie möglich, sodass jedes Stück der Trägerin Selbstsicherheit verleiht.“ Das reicht bis hin zu der neuen Sportswearedition, mit denen de Lorme die Kollektion für ihre Kundinnen weiterdenkt. „Penn & Ink ist eine Lebenseinstellung, mit all dem, wofür wir im Leben stehen, wie Liebe, Positivity, Reisen, Essen, Freunde und Mode. Es geht darum, Teil unserer Familie zu sein.“
Community counts
Nahbarkeit suggerieren auch die Kollektionen von Bloggerinnen, allen voran Pioniere wie Anine Bing,gefolgt vonzum BeispielOh April oder von Karo Kauer Label. Die Mode ist gar nicht mal die Hauptsache –Authentizität entscheidet über den Erfolg. Echt sein, haben auch Justyna Przygonska und Brygida Handzelewicz-Waclawek für ihr polnisches Label The Odder Side zum Prinzip erklärt. Als sie vor zehn Jahren mit dem Onlineshop starteten, begannen sie zeitgleich, über Instagram und in Englisch kommuniziert eine internationale Community aufzubauen. „Wir haben alles geteilt, von der Designskizze bis zur Renovierung unseres ersten Stores in Warschau“, erzählt Justyna Przygonska. Perfekt daran war das nicht Perfekte. „Wir haben unsere Followerinnen in den laufenden Prozess mitgenommen und sie haben uns als Frauen wie Freundinnen kennen gelernt“, sagt sie. Ein Kleid mit Rückenausschnitt oder die lässige Jeans mit Strickjacke sind eher simpel, aber sie werden zu Must-Haves, weil die Macherinnen ihre Marke und ihren Style leben.
„Nichts ist individueller als die eigene Geschichte, da gibt es kein richtig oder falsch“, sagt Vanessa Baroni-Wieler. Auch auf Instagram ist sie das Gesicht für ihr Schmucklabel Vanessa Baroni, das in zunehmend internationalen Fashionstores die Womenswear ergänzt. Gerade in Krisenzeiten hat Modeschmuck Konjunktur, weil man sich für wenig Geld etwas gönnen kann und der ausdrucksstarke Schmuck jedes Outfit aufwertet. Kollabos bringen wieder eine neue Dynamik, wie bei Vanessa Baroni mit dem Label SoSue. „Wir waren damit so erfolgreich, dass wir jetzt in die Verlängerung gegangen sind“, so Baroni-Wieler. „Denn wenn es passt, supportet man sich gegenseitig und gewinnt neue Kundinnen über die Partnermarke.“
Touchpoints
Dass Kollabos die eigene Story mit neuer Spannung aufgeladen weitererzählen können, weiß man auch bei der Marke Soeur, die mit K-Way kollaboriert, oder bei Baum und Pferdgarten, die im vergangenen Herbst die Sneaker von Etonic im Kopenhagener Flagshipstore gelauncht haben. Für die Herbst-Winter-Kollektion 2024 wurde ein Love and Friendship Pop-up-Konzept ins Leben gerufen, durch das die Kundinnen noch mehr involviert werden können. „Kundennähe ist wichtiger denn je, weswegen wir mit #baumfamily eine großartige Community aufgebaut haben“, so Rikke Baumgarten. „Es ist wichtig, dass die Kunden mit uns in Austausch sind und sich gesehen und gehört fühlen.“ The Odder Side schafft ebenfalls Touchpoints mit der Community. Im September fand ein Event im Pariser Store statt, um das nachhaltige Make-up von Submission Beauty aus Los Angeles zu präsentieren. Dazu hat The Odder Side eine kleine Edition aus recycelter Baumwolle herausgebracht, auch um zu signalisieren, dass man mit der Kollektion künftig einen nachhaltigeren Weg einschlagen will. Aktuell möchten die beiden Partnerinnen ihre Kundinnen noch öfter live treffen. Wie zuletzt bei einem Boysday-Dinner in Warschau, bei dem die Kundinnen ihre Freunde mitgebracht haben. „Ich habe diesen Abend geliebt, die tollen Gespräche waren magisch“, schwärmt Justyna Przygonska. „Das hat uns wieder gezeigt, dass es bei allem um die Gemeinschaft mit anderen Menschen geht. It’s a People’s Business! Ein bisschen ist es so, wie an den Anfang zurückkommen.“