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Stephy Fung & Anne-Liese Prem

Virtuell? Real? Wen kümmert’s?

01/07/2024  BY  Stephan Huber


Digitale Mode, NFTs und das Metaverse waren plötzlich der letzte Schrei. Nur um dann scheinbar sehr schnell wieder zu verschwinden. Aber wirklich nur scheinbar. Tatsächlich hat sich die technologische, konzeptionelle und wirtschaftliche Entwicklung sogar über den reinen Hype hinaus radikal beschleunigt. Stephan Huber sprach mit der digitalen Modedesignerin Stephy Fung und der Tech- und Zukunftsexpertin Anne-Liese Prem über das Wesen der digitalen Mode, die Erweiterung des Bewusstseins und immersive Erfahrungen.
Stephan Huber: Ich gratuliere dir ganz herzlich, Stephy. Forbes hat dich in die Liste der „30 unter 30 in Europa“ in der Kategorie Kunst und Kultur aufgenommen…

Stephy Fung: Unter so vielen anderen unglaublichen jungen Kreativen zu sein, ist ein fantastisches Gefühl. Vor allem freue ich mich über die Aufmerksamkeit, die das für meine Arbeit erzeugt. Das ist entscheidend für die weitere Entwicklung der digitalen Mode.

Was genau hat dich zu diesem Bereich hingezogen? In dieser relativ jungen Disziplin, die Mode, digitale Kunst und Gamification verbindet, bist du, wenn ich das sagen darf, ein ziemlich erfahrener Profi.

Stephy: Als ich im Jahr 2020 mit digitaler Mode anfing, war das noch sehr neu. NFTs wurden gerade zu einem Modewort. Für mich, mit meinem Hintergrund als 3D Motion Designerin, war es unglaublich aufregend, dass ich als Mensch und Künstlerin in meine britisch-chinesische Identität eintauchen und so Geschichten, Kultur und diese Identität sichtbar machen konnte. Es war auch eine sehr persönliche Reise, um mich selbst zu entdecken. Alles, was ich wirklich brauchte, war ein Computer und etwas Software. Die technischen Skills hatte ich bereits. So war es recht schnell möglich, meine eigene Identität als Designerin zu entwickeln. Schließlich geht es bei Mode nicht nur darum, was man trägt, sondern auch darum, wer man ist. Um Identität, um Selbstbewusstsein. Die digitale Mode bietet dafür ganz neue Möglichkeiten.

Was ist so neu und anders?

Stephy: Letztlich gibt es keine Grenzen. Zumindest keine physischen. Man kann also viel experimentieren, Ideen ausprobieren, sie schnell verwerfen oder überarbeiten, ohne sich Gedanken über Vorlaufzeiten, Lieferketten oder Produktionskosten zu machen. Ich mag diese Geschwindigkeit. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass wir auch in der physischen Mode viel für zukünftige Prozesse lernen können. Ich habe Anfang des Jahres meinen ersten physischen Drop auf den Markt gebracht und dabei sehr hybrid gedacht und gearbeitet.

Anne-Liese, dein Weg zum Emerging Tech Scout und zur weltweit gefragten Digital Branding Expertin war eine ganz besondere Reise. Was hat dich angetrieben?

Anne-Liese Prem: Menschen wie Stephy. Wenn ich ihr zuhöre, löst das etwas in mir aus. Ich bin sehr neugierig und wissbegierig. Ich habe meine Karriere in der Mode- und Luxuskommunikation begonnen und vor über 20 Jahren für Swarovski gearbeitet, wo ich das Trendmagazin herausgegeben habe. Während meiner gesamten Karriere war ich immer auf der Suche nach den Trends der Zukunft. Dann habe ich meine Agentur gegründet, in der ich auch mit zukunftsweisenden Marken zusammengearbeitet habe. Vor etwa drei Jahren fing ich an, mit Crunchyroll, der Anime-Streaming-Plattform, zusammenzuarbeiten und begann, Gamern und Menschen zu folgen, die an der Schnittstelle von Technologie und Kultur leben und arbeiten. Co-Creation und digitales Eigentum und so weiter. Und natürlich hat mir das auch die Türen zur digitalen Mode geöffnet. Prada Timecapsule, Metaverse Fashion Week, Roblox… ich verstand die Zusammenhänge und erkannte, dass das auch MEINE Zukunft ist. Also habe ich mein Netzwerk und mein Wissen ständig erweitert. Denn Projekte entstehen aus und in dieser wunderbaren, eng vernetzten Gemeinschaft. Und wir stehen wirklich noch ganz am Anfang.

Die Modeindustrie selbst kämpft immer noch damit, digitale Mode nicht in die Schublade „irgendwas mit Gaming“ zu stecken. Was ist nötig, um das enorme Potenzial dieses Themas schneller und direkter zu nutzen, vor allem für den herausfordernden Wandel in der Branche?

Stephy: Ich sehe es als einen ganz normalen Übergangsprozess. Vieles ist bereits auf dem Weg. Programme wie CLO 3d werden heute in Design-, Planungs- und Produktionsprozessen immer wichtiger, angetrieben durch die rasante Entwicklung der KI. Ich bin davon überzeugt, dass dadurch nicht nur die Effizienz und damit die Kosten optimiert werden können, sondern ich sehe auch einen starken positiven Einfluss auf die Kreativität. Eine besonders spannende Frage ist für mich die Bereitschaft, digitale Produkte zu kaufen, zu sammeln und auch zu nutzen. Letztlich ist das aber eine Generationenfrage. Für den jüngeren Teil von Gen Z ist das Konzept einer digitalen Identität einfach Teil des Alltags. Was kommen muss und wird, ist zum einen ein einfacherer Zugang. Aber noch wichtiger ist ein anderer Punkt. Wenn ich heute ein digitales Outfit von einer Plattform wie Decentraland auf Roblox oder Fortnite übertragen will, ist das superschwierig, weil es sich bis jetzt immer um getrennte, in sich geschlossene Welten handelt. Für mich ist das eine Herausforderung für die Anbieter. Die Nutzer wollen keine abgeschottete, sondern eine nahtlose Erfahrung. Das ist eigentlich die Idee des Metaverse.

Anne-Liese: Für mich war das Metaverse schon immer mehr als nur ein virtueller Treffpunkt mit Avataren ohne Beine. Vielmehr steht es für die digitale Transformation, die uns vorantreibt. Unternehmen wie Siemens und Apple bauen Metaverse-Konzepte in ihre Technologien ein und verwandeln das Internet in einen immersiven 3D-Raum, in dem digitale und physische Welten verschmelzen und Technologien wie KI ins Spiel kommen. Digitale Mode umfasst bereits viel mehr, als die meisten Menschen denken. Es gibt Augmented-Reality-Konzepte, bei denen du Kleidung über dein Handy anprobieren kannst, und virtuelle Mode, wie die Skins in Videospielen. Dann gibt es noch die digitale Mode als neues Feld der Complied Art, die über NFTs gesammelt, aber auch in Games und vielleicht bald überall getragen werden kann, wenn die APIs der verschiedenen Plattformen vereinheitlicht werden. Hier stimme ich Stephy vollkommen zu. Der nahtlose Übergang ist entscheidend für das Nutzungserlebnis. Die größte Herausforderung ist jedoch nach wie vor die Frage der Monetarisierung für Marken; herauszufinden, wie sie von diesen digitalen Innovationen profitieren können.

Stephy, die Etablierung funktionierender Geschäftsmodelle für Digital Fashion ist für dich nicht unwichtig…

Stephy (lacht): Ja, ich glaube, wir alle versuchen gerade, das herauszufinden. Das Unternehmen, zu dem ich immer noch am meisten aufschaue, ist RTFKT. Sie hatten diese NFT-Community am Laufen und nutzten ein On-Demand-System, um ihre Sammler mit digitalen Teilen zu belohnen. Ich bin mir nicht sicher, wie nachhaltig das auf lange Sicht sein wird, denn der Hype um NFTs hat merklich abgekühlt. Aber der Community-Aspekt ist etwas, das ich wirklich bewundere, denn sie haben ihre Community wirklich mit einbezogen. Sie haben sie in ihre IP eingebunden und sie ermutigt, ihre eigenen Versionen ihrer 3D-Assets und Modelle zu entwickeln. Denn es dreht sich alles um die Community. Und ich denke, das sollte auch in diesem Bereich so bleiben. Mir gefällt auch die Idee, mit physischen Modemarken zusammenzuarbeiten, wie z. B. The Fabricant mit Maison Margiela, ebenfalls auf der Grundlage eines Gemeinschaftsgefühls. Du kannst sogar ein physisches Exemplar ihrer virtuellen Tabby-Stiefel bestellen. Ziemlich cool. Ich denke, die Brücke zwischen digital und physisch ist wirklich wichtig.

Also eine Art hybrides On-Demand-Modell? Wenn du etwas Digitales so sehr liebst, dann kannst du es auch als physisches Produkt bestellen?

Stephy: Ein aufregender Gedanke, oder? Meine Community hat mich dazu gedrängt: „Hey Stephy, wir wollen deine Sachen nicht nur virtuell tragen, sondern auch physisch!“ Wenn du Mode studiert hast und weißt, wie man Muster macht, kannst du sie ganz gut von der digitalen in die physische Form übertragen. Aber für Leute wie mich, die sich erst nach und nach mit Schnittmustern und Passformen vertraut machen, gibt es Dinge, die in digitaler Form großartig aussehen, aber physisch einfach nicht funktionieren oder zu teuer sind. Als 3D-Künstler musst du dir keine Gedanken über Dinge machen, die die Kamera nicht sehen kann. Aber im echten Leben siehst du alles, was sichtbar sein kann. Das ist eine Herausforderung, aber auch ein sehr spannender Prozess für mich. Ich arbeite mit einem Unternehmen namens Phygital Twin zusammen, um die Kluft zwischen dem Digitalen und dem Physischen zu überbrücken. Ich glaube so sehr an die digitale Integration. Und es wäre einfach toll, wenn es in Zukunft diese freie Wahl gäbe.

Anne-Liese: Wir müssen diese Entwicklung aus der Perspektive von Gen Z und sogar Gen Alpha betrachten. Diese Generation wird bald über Kaufkraft verfügen und geht ganz anders an die Digitalisierung heran. Modemarken sind wie große Schiffe in einem Ozean, und jetzt kommt eine Welle, an die sie sich anpassen müssen. Sie müssen die Perspektive, die hybride Realität ihrer zukünftigen Zielgruppen verstehen. Digitale Mode kann nicht isoliert betrachtet werden; sie ist Teil einer neuen Art des Geschichtenerzählens und einer neuen Art und Weise, wie die Kundschaft eine Marke kennenlernt – zuerst auf digitalem Wege. Digitale Modeschaffende werden genauso einflussreich sein wie Couture-Designer. Sie prägen Ästhetik und Technologie und zeigen, was mit digitalen Werkzeugen möglich ist. Das wird ein integraler Bestandteil der Mode insgesamt sein.

Mein ziemlich kluger Freund Vahe fragte mich Anfang 2020 rhetorisch: „Hey Stephan, denkst du, etwas ist nicht real, nur weil du es nicht anfassen kannst?“ Lasst uns also darüber reden, wie wir unser Konzept der Realität oder unsere omnisensorische Wahrnehmung erweitern können.

Stephy: Noch einmal: Das Tolle an der digitalen Welt ist, dass wir nicht an physikalische Gesetze gebunden sind, um es einfach auszudrücken. Und jetzt können wir diese Welt auf eine neue, immersive Weise erleben, oder? Mixed Reality ist noch ein recht neues Thema. Das eröffnet so viele neue Möglichkeiten, sich auszuprobieren und auszudrücken. Ich habe keine endgültige Antwort darauf, was es sein könnte, denn mit dieser Technologie gibt es so viele Möglichkeiten zu spielen, und der technische Fortschritt ist so atemberaubend. Sogar für mich. Aber es macht mir wirklich Spaß zu sehen, wie wir, die jüngere Generation, eine neue Form des Selbstausdrucks vorantreiben und wie sie auf die Massenkonsumenten überschwappt.

Anne-Liese: Ich erinnere mich, dass ich vor ein paar Jahren ein Video auf LinkedIn geteilt habe, in dem Keanu Reeves einigen Teenagern The Matrix erklärt hat. Er sagte, es ginge um einen Typen, der nicht weiß, was real und was virtuell ist. Einer der Teenager sah ihn an und sagte: „Wen interessiert das schon?“ Und ich fand, das war eine brillante Art zu zeigen, wie die nächste Generation sich in der digitalen Welt zurechtfindet. Als Angehörige der Generation X war mein persönlicher Realitätscheck, als ich auf der Metaverse Fashion Week online neben Maghan McDowell von der Vogue Business stand. Sie war ausgesprochen stylish, während ich den Standard-Look trug, den man bekommt, wenn man zum ersten Mal im Decentraland auftaucht. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, ein Outfit zu kaufen und fühlte mich total underdressed. Ich wollte unbedingt das haben, was sie anhatte. Es ist schon komisch, dass man in diesen digitalen Räumen die gleichen Gefühle hat wie im echten Leben.

Vor kurzem habe ich die Apple Vision Pro ausprobiert. Das Mixed-Reality-Erlebnis war überwältigend. Ich sollte einen Formel-1-Reifen aufheben und dachte: „Ich kann ihn nicht aufheben, er ist nicht wirklich da.“ Aber es fühlte sich an, als könnte ich ihn anfassen. Wirklich! Es ist verwirrend und gleichzeitig faszinierend zu sehen, wie unsere Gehirne damit umgehen und wohin das alles führen könnte. Es sind definitiv interessante Zeiten für die Modebranche, SEHR interessante Zeiten.

Stephy Fung ist eine der führenden digitalen Modekünstlerinnen, Ausbilderinnen und Content Creators, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, physische und digitale Mode mit Phygitalen, NFTs, digitalen Wearables für das Metaverse und Augmented Reality zu verbinden. Sie hat bereits mit renommierten Marken wie Gucci, Highsnobiety, Lenovo, Dell und Snapchat zusammengearbeitet und damit den Grundstein für das Wachstum ihrer Marke gelegt. Vor kurzem wurde sie in die Forbes 30 under 30 Liste aufgenommen, die Kunst und Kultur in Europa repräsentiert.

www.stephyfung.com

Anne-Liese Prem ist die Gründerin und Geschäftsführerin von tomorrowstories, einem Beratungsunternehmen für Zukunftstrends und Innovation an der Schnittstelle zwischen neuen Technologien und Kultur. Anne-Liese Prem hat international an so unterschiedlichen Orten wie Australien und Uganda für globale Marken wie Swarovski und Red Bull gearbeitet. Sie konzentriert sich auf Storytelling der Zukunft, einschließlich Spatial Computing, immersiven Erlebnissen, Gaming und generativer KI, und arbeitet als Beraterin eng mit Führungskräften und Start-ups zusammen, um sie bei der Entwicklung ihrer Zukunftsstrategien zu unterstützen. Sie ist Herausgeberin mehrerer Trendberichte zur digitalen Transformation und Rednerin bei akademischen Einrichtungen und Veranstaltungen rund ums Metaverse.

www.tomorrowstories.com

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