Interview: Stephan Huber. Text: Isabel Faiss. Fotos: The Odder Side
Justyna Przygonska, Gründerin The Odder Side: Wir lieben es, mit Worten zu spielen. Die ursprüngliche Idee war, die andere Seite der Kleidungsstücke zu zeigen, die Nähte, die Innenseite der Stoffe. Diese Idee haben wir schnell wieder verworfen. Aber der Name hat eine wirklich spannende Eigendynamik entwickelt und eine tiefe Bedeutung bekommen, die eng mit unserer Sicht auf Mode und die Gesellschaft verbunden ist. Anderssein nicht als Selbstzweck, sondern als bewusste Haltung. Unsere ersten Stücke setzten immer den Rücken in Szene. Ich finde ihn so skulptural und sexy, aber gleichzeitig nicht zu aufdringlich. Ein nackter Rücken sticht nicht ins Auge, wenn man einen Raum betritt. Und es ist auch die andere Seite, wenn man so will. Nicht aufdringlich zu sein, ist ein wichtiger Teil unserer Marken-DNA.
Als wir 2014 The Odder Side gründeten, waren wir 25 und 26 Jahre alt, wir haben beide immer neben unserem Studium gearbeitet. Unser eigenes Geld zu verdienen und unabhängig zu sein, war uns wichtig.
Wir liebten Mode! Wir waren junge Frauen, die gerne ausgingen und Spaß hatten. Brygida hat Psychologie studiert, ich Kunstgeschichte. Als wir uns kennen lernten, arbeitete Brygida als Stylistin für Zeitschriften. Sie kannte damit schon die Abläufe und Systematiken der Modeindustrie und sie hatte Kontakte. Sie machte mich mit einer Modemarke bekannt und ich begann, im Marketing zu arbeiten. Dort hatte ich die Chance, in einem kleinen Team fast alles zu machen – ein unglaublicher Lernprozess.
Wir waren so motiviert, wir wollten etwas gemeinsam machen, und das war Mode. Die Mode, die wir einfach nicht finden konnten. Uns fehlte wirklich etwas, ein bestimmter Look, eine gewisse neue junge Weiblichkeit und wir haben uns auf dem polnischen Markt umgesehen. Es gab eine klare Lücke zwischen High-End-Mode und bequemen, locker sitzenden grauen Jogginghosen. Also haben wir den Look für uns selbst entworfen, aber wir waren uns ziemlich sicher, dass er auch vielen Mädchen gefallen würde.
Instinktiv, nicht als cleverer Masterplan. Wir waren jung und ehrgeizig. So einfach ist das. Wir haben auch vom ersten Tag an unser Instagramprofil gepflegt, auf Englisch! Und wir zogen sofort die Aufmerksamkeit auf uns: wegen des Looks, wegen der Einstellung. Es war so aufregend und hat so viel Spaß gemacht. Wir waren so unglaublich selbstbewusst. Das verstehe ich heute gar nicht mehr (lacht wieder herzhaft). Vielleicht lag es daran, dass wir nichts zu verlieren hatten. Damals hatten übrigens weder Brygida noch ich einen privaten Instagram-Account, aber wir haben die Idee verstanden. Sehr visuell, sehr inspirierend, sehr interaktiv: das war genau die Art und Weise, wie wir The Odder Side kommunizieren wollten.
Auch hier sind wir davon ausgegangen, was UNS interessieren würde. Und genau so haben wir es gemacht. Unsere Kunden konnten vom ersten Tag an unsere Geschichte live miterleben. Wir waren ansprechbar und immer offen. Nicht nur für Lob, sondern auch für Kritik. Und hey, polnische Frauen sind ja so überkritisch und anspruchsvoll! Das ist eine Art nationales Kulturgut. Wenn du es in Polen schaffst, bist du bereit, die Welt zu erobern.
Auf jeden Fall! Anlässlich unseres zehnjährigen Jubiläums im September 2024 machen wir einen ganz besonderen Drop mit unseren Allzeitbestsellern. Gleicher Stoff, gleicher Stil. Und damit entsprechen wir einem sehr oft geäußerten Wunsch. Übrigens sind einige dieser Stücke jetzt bei Vinted deutlich teurer als damals. Auch das ist eine tolle Bestätigung, sowohl für den Look als auch für die Qualität.
(Lachen!!!) Um ehrlich zu sein, finde ich das sehr interessant. Schließlich haben wir uns selbst lange Zeit damit beschäftigt. Wir wollten auf keinen Fall, dass The Odder Side in irgendeiner Weise „polnisch“ aussieht. Es ist ein seltsamer Minderwertigkeitskomplex, mit dem meine Generation aufgewachsen ist. Die kommunistische Ära war noch tief verwurzelt. Selbst bei den jüngeren Generationen sehen wir diesen Komplex, das Gefühl der Entbehrung. Unsere Großmütter suchten überall nach Inspirationen und verwendeten auf geniale Weise unkonventionelle Materialien, um Kleidung herzustellen. Für mich und meine Generation war es noch neu, die Welt zu bereisen. Wir hatten einfach nicht den gleichen Hintergrund wie ein Mädchen aus Paris, London oder Rom. Heute boomt Polen, vor allem im kreativen Sektor. Und ich bin stolz auf diese junge, kreative, ehrgeizige Kreativ-Community. Ich liebe diese Atmosphäre, das Engagement, den Zusammenhalt.
Ja, am Anfang war es einfach der einzige Weg und wurde dann zu einer sehr bewussten Entscheidung. Es ist für uns auf vielen Ebenen wichtig, praktisch und emotional.
Die lokale Produktion ermöglicht viele Dinge, die uns wichtig sind und die in der Modebranche insgesamt immer wichtiger werden. Kurze Wege, schnelle Abstimmung. Wir können Ideen in kürzester Zeit umsetzen. Nur die lokale Produktion macht unseren besonderen Rhythmus möglich. Außerdem haben wir einen genauen Einblick in die Prozesse und die sozialen und ökologischen Standards. Fun fact: Angefangen haben wir mit „Made in Europe“. Heute betonen wir „Made in Poland“ aus all den genannten Gründen sehr selbstbewusst.
Bislang haben wir das nur in begrenztem Umfang getan, fast wie ein Probelauf. Ich sehe das aber als den nächsten möglichen Schritt für The Odder Side. Präzision ist der Schlüssel, denn wir arbeiten in einem einzigartigen Rhythmus, der nicht zu den typischen Orderrhythmen passt, die es derzeit gibt.
Das ist auch unsere Überzeugung. Und das wissen wir vor allem durch den engen Austausch mit unserer Community. Das richtige Timing sollte sich immer an deren Bedürfnissen orientieren. Wir haben es nicht eilig. Es geht uns nicht darum, so schnell wie möglich zu wachsen. Wir wollen nicht in möglichst vielen Läden vertreten sein, sondern in den richtigen.
Vielen Dank für das Gespräch, Justyna!